Revolution mit dem Pinsel – Iryna Kovalenko schreibt Doktorarbeit über Kunst auf dem Majdan

Vor zehn Jahren beherrschten Bilder vom Kyjiwer Majdan die Nachrichten: Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer demonstrierten trotz massiver Polizeigewalt gegen den damaligen Präsidenten Janukowytsch. Viadrina-Absolventin und Literaturwissenschaftlerin Iryna Kovalenko erforscht für ihre Doktorarbeit künstlerische Protestformen des Majdan. Eine Ausstellung an der Viadrina zeigt ab dem 1. Februar 2024 Beispiele für den kreativen Widerstand.

Iryna Kovalenko war 16 Jahre alt, als in ihrer Heimatstadt Kyjiw Hunderttausende über Monate der Kälte und der massiven Polizeigewalt trotzten, um für Europa und gegen die russlandfreundliche Politik des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch zu demonstrieren. Als Jugendliche brachte sie mit ihren Eltern Spenden zum Majdan und sah später live im Fernsehen, wie auf dem Platz, den sie so gut kannte, Menschen erschossen wurden. „Das waren Bilder, die man verarbeiten muss, aber dafür blieb keine Zeit. Russland annektierte die Krim und wir hatten den ersten Notfallkoffer unter dem Bett. Wir wussten, dass sie nicht aufhören werden“, erinnert sich Iryna Kovalenko an die Zeit, mit der sie sich inzwischen wissenschaftlich beschäftigt.

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Nach ihrem Germanistikstudium in Kyjiw kam Iryna Kovalenko 2019 als DAAD-Stipendiatin an die Viadrina, um einen Master in Literaturwissenschaften zu absolvieren. Heute schreibt sie im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Intervenierende Künste“ ihre Doktorarbeit über künstlerische Ausdrucksformen während der „Revolution der Würde“, wie die Proteste auf dem Majdan bezeichnet werden. „Kunst und Revolution gehen nebeneinander“, davon ist sie überzeugt. Sie interessiert sich für die besondere Ästhetik des Majdan, die über die Medien und Social-Media-Kanäle in die Welt getragen wurde. „Ich stelle mir die Fragen, wie agierten die Künstler:innen im Protest, welche Rolle haben sie übernommen?“

Auf die Künstlerinnen und Künstler des Euromajdan sowie deren Werke zu schauen, ist laut Iryna Kovalenko aus mehreren Gründen besonders interessant. Zum einen verdeutliche der Werdegang der Kunstschaffenden, dass die Proteste in Kyjiw ab November 2013 nicht „aus dem Nichts“ kamen, wie damals oft beschrieben. „Die politische Temperatur hatte sich schon aufgeheizt“, das kann die Literaturwissenschaftlerin an den Kunstwerken nachvollziehen. In der Kulturszene habe man schnell nach dem Amtsantritt von Janukowytsch im Jahr 2010 gespürt, dass eine antidemokratische und russlandfreundliche Politik einziehe. „Sie haben das als Erste bemerkt und angefangen, dagegen die Stimme zu erheben“, so Iryna Kovalenko. Zudem wurde die Kunst zur „Ausdrucksform von denen, die sonst keine Stimme haben“.  Ob Plakate, Performances, Lesungen oder Sticker – viele Kunstformen gingen vermittelt über Medien und Social-Media-Kanäle um die Welt. „Sie haben – metaphorisch gesprochen – mit ihren Pinseln gekämpft“, sagt Iryna Kovalenko über die Künstlerinnen und Künstler. An ihren Werken könne man auch das Wesen der Proteste nachvollziehen, die um viel mehr gingen als um die europäische Integration. „Ich betrachte den Majdan als eine postkoloniale Revolution und als antikolonialen Widerstand gegen Russlands neokoloniale Bestrebungen und seine Ideologie einer ,Russischen Welt‘“, so die Doktorandin.

„Ich versuche mit meiner Arbeit alte Narrative zu brechen“, beschreibt Iryna Kovalenko ihre Motivation. Den Euromajdan als antikolonialen Widerstand verständlich zu machen, sei auch ein Weg, auf die kommende Gefahr der Besatzung hinzuweisen. „Das ist eine Perspektive, die man selten in Deutschland angewendet hat, die aber produktiv ist“, ist sie überzeugt. Um diese Perspektive auch an der Viadrina zugänglich zu machen, hat sie die von der Kulturwissenschaftlerin Dr. Natalia Moussienko kuratierte Ausstellung „Umkämpfte Entscheidung für Europa“ mit Kunstwerken vom Majdan an die Europa-Universität geholt. Ab dem 1. Februar 2024 wird sie im Viadrina-Hauptgebäude vor der Bibliothek zu sehen sein. „Ich habe mir gedacht, dass diese europäische Revolution ganz gut an die Europa-Universität passt“, sagt sie.

Auf die Frage, ob sie nie müde werde, immer wieder ihr Heimatland und dessen jüngere Geschichte zu erklären, sagt Iryna Kovalenko: „Nein, im Gegenteil! Ich hoffe, dass mir mehr Menschen zuhören und weniger an die russische Propaganda glauben.“ Jetzt, wo man endlich ukrainische Stimmen höre, sollte man diese Geschichten erzählen, ist sie überzeugt. „So wie es Serhij Zhadan in seiner Friedenspreis-Rede gesagt hat: Was haben wir denn, um uns zu äußern, um uns zu erklären? Unsere Sprache und unsere Erinnerung!“

Text: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest

Abteilung für Hochschul­kommunikation