Von der Nothilfe zur akademischen Perspektive – Ukrainische Wissenschaftlerinnen über ihre Viadrina-Erfahrung

Im Februar 2022 erreichten ungezählte Anfragen ukrainischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Viadrina, eine Welle der Hilfsbereitschaft rollte an. Doch wie wird aus der schnellen Nothilfe eine Unterstützung mit Perspektive? Diese Frage beschäftigt zwei Jahre nach der Eskalation des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine das International Office genauso wie die Forschenden. Die Literaturwissenschaftlerinnen Dr. Oksana Pashko und Dr. Tetiana Kalytenko sind bis heute an der Viadrina geblieben.

Martina Cors vom Welcome Center der Viadrina erinnert sich an die ersten Wochen nach dem 24. Februar 2022 als eine „verrückte Zeit begann“. Damals sei sie über ihre zeitlichen und persönlichen Grenzen gegangen, um die große Menge an ankommenden Mails von ukrainischen Wissenschaftlerinnen – es waren vor allem Frauen – zu lesen und zu beantworten. Die Hilfs- und Spendenbereitschaft war groß: Viadrina-Beschäftigte aus Verwaltung und Wissenschaft kümmerten sich um die Anreise und Unterbringung hilfesuchender Kolleginnen aus der Ukraine und aus einem eigens aufgelegten Nothilfefonds konnten erste Überbrückungszahlungen ausgegeben werden. Doch schnell wurde deutlich: Für eine langfristigere Perspektive in Form von neu geschaffenen Stellen oder umfangreichen Stipendien fehlten der Viadrina die Mittel. So bestand Martina Cors‘ Arbeit vor allem darin, externe Stipendienprogramme zu vermitteln und über Unterstützungsmöglichkeiten zu informieren. Gestandenen Forschenden zu erklären, dass sie jetzt erstmal Sozialleistungen beantragen müssen, sei für sie schwer mitzuerleben gewesen, erinnert sich Martina Cors. Schließlich wollten die ukrainischen Wissenschaftlerinnen vor allem eines: ihre wissenschaftliche Arbeit fortführen.

Kalytenko - Pashko

Dr. Tetiana Kalytenko (links) und Dr. Oksana Pashko kamen beide im März 2022 aus der Ukraine an die Viadrina. Sie arbeiten im Projekt European Times.


Genau mit diesem Wunsch war die Literaturwissenschaftlerin Dr. Oksana Pashko im März 2022 als Stipendiatin im Projekt European Times zu Prof. Dr. Annette Werberger an die Viadrina gekommen; inzwischen wird sie von der Alexander von Humboldt-Stiftung im Rahmen der Philipp Schwartz-Initiative gefördert. Sie arbeitet aktuell an einer Monografie über das intellektuelle ukrainische Leben der 1920er-Jahre sowie an einer Sammlung mit Artikeln des ukrainischen Literaturwissenschaftlers Andreii Kovalivsky. Beide Bücher sollen in diesem Jahr in der neuen Reihe „Viadrina Ukrainian Studies“ erscheinen. Oksana Pashko füllt neben ihrer Forschung aber auch noch eine neue Rolle aus: „Seit März 2022 fühle ich mich vor allem als akademisches Bindeglied zwischen Deutschland und der Ukraine. Ich hoffe, dass all das Wissen, das wir ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland sammeln, dazu beitragen wird, der deutsch-ukrainischen, akademischen Zusammenarbeit eine neue Dimension und Intensität zu verleihen, wenn der Krieg endlich vorbei ist.“

Oksana Pashko ist zutiefst dankbar dafür, dass sie sich trotz der albtraumhaften Situation in ihrer Heimat und der eigenen Flucht ihrer Arbeit widmen kann: „Von den ersten Tagen an, als ich mit meinem Sohn in Frankfurt (Oder) ankam, fühlten wir uns wie ein Teil dieser unglaublichen Universitätsfamilie. Die Kolleginnen und Kollegen halfen mir bei der Wohnungssuche, der Einschulung meines Sohnes, bei allen Formalitäten und vor allem bei der psychologischen und beruflichen Anpassung.“ Vor allem danke sie Annette Werberger, Andrii Portnov, Claudia Dathe und Martina Cors für deren Unterstützung.

Auch für Tetiana Kalytenko waren die unterstützenden Worte eine sichere Unterkunft und das loyale akademische Umfeld die wichtigsten Unterstützungen seit ihrer Ankunft an der Viadrina. In den vergangenen zwei Jahre durchlief die Literaturwissenschaftlerin, die ebenfalls beim Projekt European Times (EUTIM) angedockt ist, vier verschiedene Förderungen. Vom EUTIM-Stipendium über eine Förderung der Volkswagen-Stiftung, Unterstützung aus dem Viadrina-Nothilfefonds bis zum aktuellen Stipendium im Rahmen der Philipp Schwartz-Initiative. Dieses zweijährige Stipendium gebe ihr nach den vielen unsicheren Monaten, in denen sie auch noch ihre Doktorarbeit verteidigte, „stabilen Boden unter den Füßen“.

Auf die einschneidendste Auswirkung des Krieges angesprochen, spricht sie dann aber nicht von ihrer Flucht oder über Geldsorgen, sondern von ihrer veränderten Sichtweise als Leserin und Wissenschaftlerin: „Vor der umfassenden Invasion hatte ich eine eher naive Sicht auf das Leben und die russische Kultur. Heute versuche ich, mich tiefer in die ukrainische, polnische, deutsche und finnische Literatur zu vertiefen. Die Erfahrung der Entfremdung von der einen Kultur, die uns von Geburt an eingeimpft wurde, öffnete mir neue Türen und Erkenntnisse.“

Tetiana Kalytenko und Oksana Pashko gehören zu den wenigen Forschenden, die vor zwei Jahren an die Viadrina gekommen sind und immer noch hier arbeiten. Neben den erfolgreichen Anträgen für die Finanzierung ihrer Stellen sieht Martina Cors einen weiteren Grund für ihr gelungenes Ankommen: „Eine wirkliche Integration funktioniert nicht im Sinne von Nothilfen, sondern durch die Einbindung in Forschungsprojekte mit der Möglichkeit zu lehren und zu publizieren.“

Text: Frauke Adesiyan
Fotos: Privat; Heide Fest

 

Abteilung für Hochschul­kommunikation