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Gastvortrag von Dr. Thilo Sarrazin

Am 20. November 2009 war Dr. Thilo Sarrazin – Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank – zu Gast an der Europa-Universität Viadrina. Im Rahmen der Vorlesung „Angewandte Wirtschaftstheorie“ des Lehrstuhls für Makroökonomie von Herrn Prof. Dr. Georg Stadtmann hielt er eine Gastvorlesung zum Thema „Steuereinnahmen und Staatsverschuldung“.

Zunächst führte Herr Sarrazin durch die Unterscheidung von  Steuer- und Abgabenquote in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in das Thema ein. Das Hauptaugenmerk legte er dabei auf den internationalen Vergleich. Herr Sarrazin spielte in diesem Punkt auf die landläufige Meinung an, die Vereinigten Staaten seien ein Niedrigsteuerland. Diese Behauptung widerlegte er in Hinblick auf die Steuerquote, die sich von der Deutschen nur wenig unterscheidet. Anders stellt sich die Situation mit Blick auf die Abgabequote dar. Die deutsche Quote liegt deutlich über der Amerikanischen. Herr Sarrazin verweist hierbei auf die stärkere Besteuerung des Faktors Arbeit in Deutschland.

Im weiteren Fortgang des Gastreferats wurde die Frage nach der Bedeutung des starken Staates für den Wohlstand einer Nation gestellt. In den Wirtschaftswissenschaften lässt sich diese Frage auf den einfachen Zusammenhang zwischen Pro-Kopf-Einkommen als Maß für den Wohlstand eines Landes und dem Staatsanteil als Gradmesser für die Dominanz der öffentlichen Hand reduzieren. Dem Zuhörer wurden im Audimax vier Länder präsentiert, deren Pro-Kopf-Einkommen sowie Lebensstandard ähnlich hoch sind, sich aber in der Höhe des Staatsanteils deutlich unterscheiden. Der Wohlfahrtsstaat Schweden besitzt eine Steuer- und Abgabenquote von ca. 48 %, Deutschland von noch 36 % sowie die Schweiz und die USA von nur noch 28,5 %. Hieraus zieht Herr Sarrazin den Schluss, dass es im Bezug auf die Prosperität eines Landes keinen dominanten Gesellschaftsentwurf gibt und entwickelte Volkswirtschaften durchaus die Wahl haben, zwischen einem starken oder einem schwachen Staat zu wählen. Es kommt lediglich darauf an, dass die Bevölkerung das jeweilige Modell akzeptiert.

Zum Ende des Referats wird das hiesige Ringen der Koalitionäre um Steuererleichterungen aufgegriffen und unter dem Aspekt der Steuerakzeptanz analysiert. Herr Sarrazin attestiert den Deutschen als ehemaliger Finanzsenator Berlins und heutigem Bundesbanker, dass sie nur sehr widerwillig Steuern zahlen. Andererseits betont er, dass sie gerade diesem ungeliebten Staat durch den Kauf von Bundesschatzbriefen bei der Kreditaufnahme zur Finanzierung des defizitären Staatshaushaltes helfen. Dieser Widerspruch kann von hoher Bedeutung für die Stabilität das Systems sein, wenn die Bundesschatzbriefe von den Kindern und Kindeskindern stets weitervererbt werden und keine Generation jemals eine Rückzahlung fordert.

Wie an diesem Tag deutlich wurde, müssen Schulden per se nichts Schlechtes sein – vorausgesetzt der Staat macht sie und er verschuldet sich dabei nicht im Ausland. In der Diskussion über steigende Staatsverschuldung muss nämlich berücksichtigt werden, dass die deutsche Volkswirtschaft netto nicht im Ausland verschuldet ist, sondern über Leistungsbilanzüberschüsse stetig Forderungen gegenüber dem Ausland erwirbt. Somit verschuldet sich der deutsche Staat bei den eigenen Bürgern.

Die negativen Folgen der Staatsverschuldung können am aktuellen Beispiel der USA skizziert werden, wo ein Defizit des Staatshaushaltes in den vergangenen Jahren i.d.R. mit einem Leistungsbilanzdefizit einherging. In dieser Situation verschuldet sich die USA stetig gegenüber dem Rest der Welt und hier speziell bei China und Japan, was bereits heute zu erheblichen politischen Spannungen zwischen den USA und China führt. Insofern ist es verständlich, dass Herr Sarrarzin auch das Thema Staatbankrott anspricht.

Besonders interessant für das Publikum wurde es immer dann, wenn Herr Sarrazin vom Manuskript abwich und es durch Beispiele aus seiner Karriere ergänzte. So konnte er aus seiner Zeit als Haushalssenator Berlins davon berichten, mit welchen Problemen der Stadtstaat auf Grund der deutschen Wiedervereinigung zu kämpfen hatte. Der Haushalt Berlins wurde vor der Wende zu mehr als 50 % durch Bundesmittel ergänzt, die infolgedessen abgebaut wurden. Ein solcher Einbruch auf der Einnahmenseite verlangt unpopuläre Maßnahmen auf der Ausgabenseite, wenn man die Schuldenaufnahme reduzieren will oder muss. Eine Maßnahme bestand z. B. darin, für zwei Jahre die Ausbildung von neuen Polizisten komplett auszusetzen, um auf diese Weise einen Stellenabbau im öffentlichen Dienst herbeizuführen. Unpopulär aber erfolgreich, wie Herr Sarrazin diese Maßnahme kommentierte.

In einem kurzen persönlichen Gespräch nach dem Vortrag bedankte sich Herr Dr. Sarrazin ausdrücklich für die Einladung an die Viadrina. Er zeigte sich sehr überrascht, an einem Freitagmorgen vor ca. 350 Studenten sprechen zu dürfen. Auch der Gastgeber, Herr Prof. Dr. Georg Stadtmann war ebenso zufrieden: „Ich hätte nicht gedacht, dass der Audimax voll wird. Nun ist klar, dass ein solches Format bei den Studenten ankommt. Somit können wir die Planung für 2010 angehen.“

Sarrazin_quer_scaled ©Lehrstuhl Stadtmann